Erkenne Dich Selbst – so lautet der bekannte Spruch vom Apollontempel in Delphi. Doch was selten beachtet wird, ist, dass dieser Spruch an einem besonderen Platz im Tempel angebracht war. Manche Quellen sprechen davon, dass dieser Ausspruch auf dem Hauptportal über dem Ausgang des Tempels gestanden haben soll. Diese Weisheit hatte man dem Ratsuchenden mit auf den Weg gegeben, nachdem er vom Orakel alles erfahren hatte, was seine Person betraf. Danach ging man in die Welt hinaus, an jenen Ort, der immer der Spiegel der eigenen Innenwelt ist. Außen- und Innenwelt sind in einem ständigen Austausch und antworten sich gegenseitig. Wenn ich also beim Hinausgehen aus dem Tempel den Ausspruch lese, “Erkenne Dich selbst”, dann wird mir gesagt: Blicke auf die Welt und erkenne Dein Selbst, welches eins mit der Welt ist. Du bist die Weltenseele und erkenne, dass alles das Spiel Deines Selbst ist.

In der indischen Samkhya – Philosophie gibt es zwei Grundbegriffe: Purusha und Prakriti. Von letzterem Wort stammt auch unser Wort “praktisch” ab. Prakriti bezeichnet in dieser Philosophie alles, was sich in unserer Innen- und Außenwelt abspielt. Also alles dinglich Wahrnehmbare, wie auch alles immateriell Wahrnehmbare – wie Gedanken oder Gefühle. Es bleibt die Frage, was dann Purusha ist, wenn Prakriti alles Materielle und Immaterielle doch schon bezeichnet. Purusha ist das, was wir im Alltag nicht gesondert wahrnehmen, weil es die Wurzel aller Wahrnehmung ist, nämlich das, was in uns wahrnimmt – unser natürliches, alltägliches Selbstverständnis, welches uns nie verlässt. Unser “Ich-Gefühl”. Ich bin immer gegenwärtig, in jedem Augenblick meines Lebens. Im Tiefschlaf gibt es zwar Abschnitte, an die ich mich nicht erinnere, doch nach dem Aufwachen schließt sich das Erlebnis vom Vortag an das gegenwärtige Erleben an. So ist unser Ich kontinuierlich vorhanden. Es gibt also keinen Augenblick im Sein ohne Bewusstsein und nur scheinbare Unterbrechungen, welche dank dieser Kontinuität unseres Bewusstseins wahrgenommen werden können.

Ich kann jeglicher Überzeugung sein, ich kann reiner Materialist sein und das Vorhandensein des gesamten Jenseits abstreiten; eins kann kein Mensch auf der Erde leugnen: Dass es ein Sein gibt und dass dieses Sein zwangsläufig alles, das ist, umfasst. Und dass dieses Sein immer existent ist – egal zu welcher geschichtlichen Epoche der Menschheit oder des Universums, egal in welcher Daseinsform oder Dimension. Sein ist ewig. Sein gibt es jedoch auch nie ohne Bewusstsein. Denn das Sein muß von einem Wesen, welcher Art auch immer, wahrgenommen werden, um von sich selbst zu wissen, das es ist.

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Sein ist Bewusstsein. Wie könnte denn ein Sein ohne Bewusstsein aussehen? Sein, kann nur sein, wenn es auf irgendeine Art wahrgenommen wird. So ist auch jegliches Sprechen von Sein und Nichtsein, jegliches Nachdenken über die Beschaffenheit dieses Seins bloß das Spiel des einen allgegenwärtigen Bewusstseins. In den Begriffen der Samkhya-Philosophie ausgedrückt: ohne Purusha könnten wir Prakriti nicht wahrnehmen. Ohne Prakriti wüssten wir nie von Purusha. Manifestation und Sein sind untrennbar eins und werden nur in unserer Sprache unterschieden.

Purusha wäre also gleichzusetzen mit der Grundlage aller Erscheinungen im Sein. Purusha ist letztlich der ungreifbare und unbeschreibliche Urgrund alles Seins. Die Allseele, mit der wir alle eins sind. Aus religiöser Sicht sprechen wir von Gott, aus psychologischer von Bewusstsein, aus spiritueller von der Allseele, die eins ist mit der Einzelseele.  Atman entspricht Brahman – so drückt es die indische Philosophie aus.

Purusha ist der Raum, in welchem sich Prakriti entfalten kann. Prakriti tanzt und spielt mit mir in jedem Augenblick des Seins und lässt mich glauben, dass ich, der ich Bewusstsein, also Purusha bin, ein Produkt von Prakriti sei. Dass also Bewusstsein eigentlich nur ein zufälliges Produkt der Materie sei. Doch es gibt keine Materie ohne ein wahrnehmendes Bewusstsein. Sein und Bewusstsein sind ewig, Materie und die damit einhergehenden Wahrnehmungen sind veränderlich.

Die Samkhya-Karika, die wichtigste Schrift der Samkhya-Philosophie, beschreibt sehr schön, wie das Verhältnis von Purusha und Prakriti aussieht. Prakriti arbeitet fortwährend an meiner Befreiung, also an der Befreiung von Purusha. Und in dem Augenblick, wo Purusha seine Befreiung findet, oder mit einem anderen Wort, erlöst wird, merkt Purusha, dass es eigentlich gar nicht erlöst werden konnte, da es immer schon frei und unabhängig von Prakriti war. Prakriti spielt ewig das Spiel von scheinbarer Unfreiheit und Erlösung. Und wie die Samkhya Karika forumuliert: In dem Augenblick, wo Prakriti seinen Zweck erfüllt hat, also Purusha (scheinbar) befreit hat, beendet es seinen Tanz. Eigentlich müsste Prakriti eine weibliche Form der Anrede haben, denn Prakriti ist die weibliche Natur des Seins und Purusha die männliche.

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Die Mutter von Buddha hieß Maya. Buddha und Maya sind sprechende Namen. Buddha bedeutet “der Erwachte”. Das Wort hat eine gemeinsame Wurzel mit dem Wort “Buddhi”. Dieses bezeichnet unseren unterscheidenden Intellekt, also letztlich unsere Fähigkeit, die Polaritäten des Lebens zu verstehen und das zu erkennen, was jenseits aller Polaritäten liegt, also das was wir Gewahrsein nennen.“Maya” wird meist mit dem Wort “Illusion” übersetzt. Heute verstehen wir unter dem Wort “Illusion” etwas, das unwirklich ist. Doch die lateinische Wurzel bildet das Wort “ludere”, was “Spielen” bedeutet. Dem vergleichbar ist auch die Bedeutung des Sanskrit-Wortes Maya. Auch Maya ist etwas, das spielt, etwas das veränderlich ist. Es bezeichnet die Magie dessen, dass überhaupt Etwas ist und nicht Nichts ist. Die Namen von Buddha und Maya können so auch symbolisch gelesen werden. Dass das Spiel der Welt (Maya) unsere Befreiung durch unser Gewahrsein (Buddha) anstösst. Dass Prakriti (Maya) zwar eigentlich in Purusha (Buddha) erscheint, aber gleichzeitig als ewiges Prinzip der Schöpfung dessen Mutter ist.

Wenn wir von Maria als Mutter Gottes sprechen, wird genau diese Symbolik wiederholt. Und dass die Namen Maya und Maria einen ähnlichen Klang haben, ist kein Zufall, wenn auch ein geschichtlicher Bezug nicht bezeugt werden kann. Wie kann jemand die Mutter Gottes sein? Indem sie die im ewigen Prinzip der Erlösung den Erlöser gebiert, wie auch Prakriti den Erlöser Purusha gebiert. In den orthodoxen Kirchen des Balkans findet man diese Symbolik sehr schön in der Ikonenmalerei wieder. Man sieht dort häufig die Darstellung von Marias Entschlafen über dem Ausgangsportal der Kirchen. Die Darstellung hat meist zwei oder drei Ebenen. In der untersten wird Maria aufgebahrt dargestellt, umgeben von einer trauernden Menge. Dies stellt die körperliche Ebene dar.

Foto: Attila Budai

Über die aufgebahrte Maria beugt sich Christus und hält Maria als kleines Kind im Arm. Üblicherweise kennt man das umgekehrt: Maria hält Christus im Arm. Diese umgedrehte Situation steht symbolisch für die Erlösung der Seele Marias, also die Erlösung der Schöpfung durch den Erlöser. Am Eingangsportal hingegen, wenn wir in die Kirche hineingehen, sehen wir oft Maria mit dem Kinde. An der Ikonostase ist immer auf der einen Seite Maria mit dem Kinde zu sehen und auf der anderen Jesus als Erlöser. Hier ist der Ort des Gebets, hier kann ich dank der Gnade erlöst werden. Dabei erkenne ich, dass ich nicht nur ein Kind der Materie bin (Maria, Prakriti), sondern auch der Erlöser dieser materiellen Welt (Jesus, Purusha). Das Bild von Jesus als Erlöser spricht zu mir persönlich und sagt mir, dass der Erlöser in mir wohnt. Hier kann ich meine Befreiung finden und mit mir wird die ganze Welt erlöst. Jesus ist ein sprechender Name, er bedeutet: Gott wirkt. Wenn sich im Gebet diese Wandlung vollzogen hat, drehe ich mich um und sehe genau jenes Bild, in welchem Jesus nun Maria als Kind auf dem Arm hält. Purusha erlöst Prakriti indem es seine wahre Natur erkannt hat.

Oberhalb dieser Darstellung steht oft noch eine dritte Ebene, in welchem das Jüngste Gericht mit einem leeren Thron dargestellt wird. Maria, Johannes der Täufer, die zwölf Apostel und die Schar der Engel sind alle zugegen, nur Jesus fehlt. Er blickt meist von oben auf den Thron. Dies ist seine Form als Christus Pantokrator, eine Darstellung von Christus als Herrscher über das gesamte All. Er ist Herr über Zeit und Raum und ist aber auch gleichzeitig die Essenz der gesamten Schöpfung. Jene Kraft, die sich immer wieder in Zeit und Raum manifestiert, als die sich in der Schöpfung ewig wiederholende Erlösung des Einzelnen und durch ihn die Erlösung der Welt. Dass der Thron leer bleibt, hat nur einen einzigen Grund: Es ist Dein Platz.

Coverfoto: Podgorica, Montenegro – © Attila Budai