Die Wahrheit, das Lieblingsspiel der Menschheit

Der moderne Mensch lebt im Wahn der Suche nach einer letztgültigen Wahrheit. Tagein -tagaus hören wir, was die Wahrheit über dies und jenes sein soll. Die “Wahrheit” ist das Hauptgeschäft der Medien und vieler anderer Branchen und so ist die “Wahrheit” ein geflügeltes Wort geworden, welches für die verschiedensten Vorstellungen herhalten muss.

Die moderne Wissenschaft beruht auf einem Konzept, welches voraussetzt, dass irgendwo in der Tiefe der Natur die letzten Wahrheiten vergraben seien, nach welchen wir nur lange genug graben müssten, um diese freizulegen. Es sei also nur eine Frage der Zeit, bis wir alles auf Erden verstehen könnten. Und wenn wir alles verstanden haben, dann haben wir schließlich auch die Lösung für alle Probleme der Menschheit. Es gibt auch heute noch genügend Wissenschaftler, die von dieser Idee überzeugt sind. Auch unsere gegenwärtige Gesellschaft hält gerne diese Anschauung hoch. in unserer wissenschaftsgläubigen Kultur wird heute mit vermeintlichen “wissenschaftlichen Beweisen” alles Mögliche verkauft. So produzierten unsere Kulturen seit Jahrhunderten immer wieder neue Wahrheiten, die von Institutionen und Menschengruppen auch heute noch gerne auf ihre Banner geschrieben werden. Nicht selten hatte und hat heute noch die eine oder andere Wahrheit viele Opfer. Seien es die “Wahrheiten” des Nationalsozialismus, des Kommunismus oder auch des heutigen Kapitalismus, um nur die jüngste Geschichte zu erwähnen. Auch religiösen “Wahrheiten” fielen viele Menschen zum Opfer.

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Es gibt nur eine Wahrheit: dass das Leben auf der Erde gerade deshalb ewig lebendig sein kann, weil es kein Konzept gibt, welches es uns letztgültig erklären könnte.

Das Leben ist gerade deshalb lebenswert, weil die Menschheit in einer ewigen Entdeckung ihrer selbst lebt. Es ist gerade diese Freude des Entdeckens, die das Leben zu dem macht, was es ist: Ein ewiger Quell des Neuen und der Faszination mit dem Sein. Sollte jemand “die Wahrheit” über die Welt jemals entdecken, dann würde die Welt verschwinden. Warum? Man könnte sie nicht mehr ergründen. Eine Zukunft, die wir restlos kennen, ist keine Zukunft, sondern schon Vergangenheit.

Jedes Gesellschaftsspiel beruht darauf, dass es zu einem gewissen Anteil unberechenbar bleibt. Egal, ob Mensch Ärgere Dich nicht, Poker oder Schach. Egal wie einfach oder komplex ein Spiel ist, es muss immer zu einem gewissen Anteil berechenbar sein und zu einem gewissen Anteil unberechenbar bleiben. Genau das macht den Reiz des Spiels aus. Ebenso ist es bei jeder Sportart, aber auch beispielsweise in der Politik und genau dies macht auch den Reiz des Lebens aus. Im hebräischen Original der Bibel heißt es in den Psalmen, dass Gott die Welt aus Spieltrieb erschaffen hat. Das Leben ist ein Spiel, während die wichtigste Spielregel unserer heutigen Welt ist: Das Leben auf dem Planeten Erde sei todernst zu nehmen. So ist eines der Lieblingsspiele des modernen Menschen: „Der Kampf ums Überleben“, welches er dann auch gerne erweitert und es dann „Die Evolution der Menschheit“ nennt. Dieses Spiel ist eine beliebte Auffassung des modernen Menschen davon, was das Leben in „Wahrheit“ sei.

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Vor Kurzem kursierte ein kurzes Video des bekannten Geschäftsmanns Elon Musk, in dem er den technologischen Wandel und die Geburt der Robotertechnologie anpreist. Er sagt, wir könnten nun alles viel kostengünstiger herstellen und das würde Luxus für alle bedeuten. Ähnliche Zukunftsvisionen pries man in den 1970-er Jahren an, als man ausrechnete, dass die Gesellschaft der Erde nur mehr wenige Jahre davon entfernt sei, alle Erdbewohner zu ernähren. Dass es keinen Hunger und keine Not mehr auf der Erde geben müsse. Der Reichtum und der technologische Fortschritt der Erde hat diesen Punkt längst überschritten und trotzdem gibt es nach wie vor viel Armut und Hunger auf der Erde. Man fragt sich berechtigterweise: Warum? Ist es unser Geiz? Ist dem Einzelnen das Schicksal des Planeten egal? Fehlt uns die nötige Portion Mitgefühl?

Vielleicht ist es interessant zu wissen, dass der Elektrowagenhersteller Tesla schon längst bankrott wäre, wenn Musk seine Verluste nicht mit Kursgewinnen aus Bitcoin und anderen Kryptowährungen ausgeglichen hätte. Letztens hatte der gleiche Geschäftsmann auch die Witz-Währung „Dodgecoin“ als Währung der Zukunft angepriesen und damit ein Milliardengeschäft gemacht. Diese Währungsblase musste natürlich platzen, und so wurden ganz nebenbei auch viele Menschen um einiges ärmer. Dass Menschen dieses Schlags als Koryphäen unserer Gesellschaft gelten, mag in der heutigen Zeit nicht verwundern. Lässt man uns doch alle gerne ein wenig vom Schein einer glitzernden Luxuswelt träumen. Mit diesem Köder lassen sich die Herausforderungen des Arbeitsalltags viel leichter bewältigen. Das Buch „Der Aufstand der Massen“ von dem spanischen Philosophen José Ortega y Gasset gibt dazu viele interessante Anregungen. Es ist fast erschreckend, mit welcher Genauigkeit der Autor vor knapp hundert Jahren prognostizierte, wie die Gesellschaft von heute aussehen werde.

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Wie können wir also wahrhaftig und authentisch leben? Wie können wir nach unserer eigenen Wahrheit leben? Ganz einfach: Statt Rückbestätigung im Außen zu suchen, können wir die Liebe zu allem Leben in unserem Herzen wecken, mit welcher wir geboren wurden. Statt uns um Überbevölkerung, Ressourcenknappheit, Naturkatastrophen oder der Überhandnahme von Diktaturen zu sorgen, wenden wir uns lieber dem zu, was direkt vor uns liegt: Unseren Mitmenschen, unseren Freunden und unserer Familie. Dank der einfachen Dinge können wir am besten in die Stille des Seins eintauchen, dort lebt es sich am wohligsten. Wir sagen oft, dass wir in einer materialistischen Zeit leben. Doch in Wirklichkeit hat noch keine Kultur vor uns die große Mutter (Mater) Erde so für ihre eigenen Launen ausnützt wie wir. Es kann also gut sein, dass uns irgendwann die wichtigsten Ressourcen ausgehen werden. In einer Welt, wo mit dem Umlegen eines einzigen Schalters das Schicksal von Millionen beeinflusst werden kann, wo es im Ermessen einiger Weniger liegt, ob Strom fließt, das Internet funktioniert, soziale Kontakte erreichbar sind oder Kriege angezettelt werden, darf man sich gerne auf jede Spielart der „Wahrheit“ gefasst machen. Suchen wir also nicht nach einer vermeintlichen „Wahrheit“ irgendwo da draußen in der Weite des Universums. Finden wir unsere eigene Wahrheit in der Tiefe unseres Herzens und leben wir danach.

Falls einmal der Strom ausbleiben sollte, habe ich ein gut sortiertes Bücherregal. Doch was ich wohl essen werde, ist für mir noch ungewiss. Dann werde ich mich von diesem Spiel der Menschheit, diesem Jonglieren mit Wahrheiten, vielleicht verabschieden müssen. Aber ich werde es mit einem Lächeln auf den Lippen tun, denn ich weiß: Es ist alles ein Spiel.

Erschienen im Magazin Magazin Pulsar – Ausgabe Dezember 2023, Coverfoto: Timothy Eberly- Unsplash