Die Stille des Seins
Die Stille ist nicht einfach das Fehlen von Klängen. Die Stille ist leer und vollkommen zugleich. Die Stille ist nicht nur der leere Raum, in welchem jeder Ton in Erscheinung treten kann, sie erfüllt diesen Raum auch vollständig. So schwingt sie auch in allen Tönen mit, welche in ihr und aus ihr entstehen, wie auch die Summe aller Farbfrequenzen Weiß ergibt. Das Licht der Sonne scheint gleichmäßig auf alle Wesen, ohne sie zu werten. Und doch wissen wir, dass das Licht für die Güte des Seins steht und mit der Zeit alle Wunden heilen wird. Genauso wie das Licht ist auch die Stille ein Ausdruck dieses alles durchdringenden Lichtes der Schöpfung und wie dieses ist auch sie heilend. Die Stille gibt uns Gelegenheit, nichts sagen zu müssen, nicht handeln zu müssen, sondern uns im Schoß der Schöpfung auszuruhen und zum Urvertrauen mit dem Sein zurückzukehren.
Die Stille ist nicht einfach das Zur-Ruhe-Kommen der Sprache oder des Geistes, sie ist viel mehr: Die Stille ist die ganze Wahrheit.
Die Stille ist der höchste Ausdruck unseres Bewusstseins. Wie die Stille, so ist unser Bewusstsein nicht bloß der Raum, in welchem sich Ereignisse, Gefühle und Gedanken abzeichnen. Unser Bewusstsein ist immer in allen Ereignissen, Gefühlen und Gedanken gleichermaßen anwesend. In allem, was sich mit uns ereignet, können wir sagen: “Ich bin”. Doch dies bezieht sich nicht bloß auf die einzelne Person. Denn wenn ich nicht “Ich bin” sagen könnte, so gäbe es auch kein Sein. Genau gesagt, wir können gar nicht wissen, wie es sich anfühlt, nicht zu sein.
Wir überantworten uns zwar jede Nacht dem Schlaf und gehen damit bereitwillig in eine Art kleinen Tod. Doch während wir im Tiefschlaf sind, haben wir kein Selbstbewusstsein. Genaugenommen können wir nach dem Aufwachen gar nicht wissen, wie lange wir nicht bei Bewusstsein waren. Wir können nicht einmal wissen, ob die Welt, in welcher wir aufwachten, wirklich die Gleiche ist, in welcher wir schlafen gingen. Wir vermuten es, denn wir erinnern uns an den vergangenen Tag, erkennen die uns umgebende Welt wieder und werden von unserem Mitmenschen wiedererkannt. Aber genau genommen vertrauen wir nur darauf, dass während unserer Abwesenheit die Welt, in der wir lebten, nicht verschwindet. Doch wir können gerade deshalb gut schlafen, weil wir keine Angst vor diesem kleinen Tod haben, denn wir haben ein Urvertrauen darauf, dass wir am nächsten Morgen wieder aufwachen werden. Ebenso natürlich wird sich einst unser wirklicher Tod ereignen und sollte nichts danach folgen, so haben wir nichts zu befürchten. Sollte doch etwas danach folgen, so müssen wir ebenso keine Angst haben.

Träumender Buddha, vor dem Eintritt ins Nirvana,
Miyajima, Japan – Foto: Attila Budai
Nur wenn wir bei Bewusstsein sind, können wir von einem Sein sprechen. Während wir in der Nacht träumen, so erleben wir uns als lebendes Wesen, doch machen wir uns dies im Traum für gewöhnlich nicht bewusst. In dem Augenblick, wo ich in einem Traum “Ich bin” sagen kann, so wechsle ich zu einen Klartraum, auch luzider Traum genannt. Ich-Bewusstsein bedeutet vollkommen im Hier und Jetzt anwesend zu sein und mit der gesamten Schöpfung verbunden zu sein. Wenn wir also sagen: “Ich bin”, dann bedeutet dies gleichzeitig: “Alles ist”. Das Wichtigste, was wir mit dem Schöpfer des Universums gemeinsam haben, ist sagen zu können: “Ich bin”. So ist unser Ich-Bewusstsein gleichzeitig scheinbar nur unser Einzelbewusstsein, aber doch trotzdem immer schon das Bewusstsein des ganzen Universums. Es ist ein Teil und gleichzeitig auch das Ganze. Das Gleiche gilt für die Stille: sie ist scheinbar das Fehlen von Klängen und doch ist sie schon das Ganze und somit die höchste Wahrheit über unser Sein.
Wenn wir das erreichen, was man gemeinhin Erleuchtung oder Erwachen nennt, dann bleiben wir still. Denn es bleibt nichts mehr zu sagen. Und doch kehren wir in das Leben vollständig zurück und versuchen, Zeugnis von dem abzulegen, was unbeschreibbar ist.
Stille ist der höchste Ausdruck unseres Bewusstseins.
Dies ist auch der Grund, warum es keine letztgültige Wahrheit gibt auf Erden. Auch wenn Religionen, Staaten oder Institutionen gerne in der Gewißheit für sich kämpfen, daß ihre Sache auf einer vermeintlich letztgültigen Wahrheit aufbaue.
Auch wir kämpfen manchmal unser liebes Leben lang mit den unterschiedlichsten Wahrheiten. Wir verbringen Zeit mit einer Wahrheit im Herzen, dann mit einer anderen. So kommt irgendwann der Punkt, da alle Überlegungen sich nach und nach als Halbwahrheiten entpuppen. Das Einzige was übrigbleibt, ist dann nicht als die Stille, eine Stille, die nicht parteiisch ist und auch nicht Recht oder Unrecht hat.
Foto: Daniel Mingook Kim – Unsplash

Deswegen ist die höchste Form der Meditation die stille Meditation, denn sie ist zugleich die höchste Lehre, die wir empfangen können. Es gibt keine höhere Wahrheit als die Stille. Der Buddha hat bei einer seiner berühmten Lehrreden kein Wort gesagt, nur still eine Blume hochgehalten. Der Legende nach hat ihn nur ein einziger seiner Schüler verstanden. Alles ist, was es ist, es will nicht verändert werden und bleibt trotzdem nicht unverändert. Die Leere ist die höchste Lehre. Die Natur der Wirklichkeit liegt in der Stille des Seins.
Übung: Lege einen Tag der Stille ein, oder wenn Du dies beruflich nicht vereinbaren kannst, dann reduziere deine Kommunikation auf das absolut Nötige. Manchmal ist es interessant zu beobachten, wie Kollegen, Freunde oder Verwandte auf Deine Stille reagieren. In den ersten 20-30 Minuten finden sie es mal erheiternd, mal verstörend und versuchen Dich mit allen möglichen Tricks zum Reden zu bringen, doch irgendwann verlieren sie fast schlagartig ihr Interesse. Beobachte, wie es sich danach anfühlt, wie sich die Stille langsam in Deinem Wesen ausbreitet und Du zur Ruhe kommst, in der alles ist, was es ist.
Erschienen im Magazin Pulsar, Ausgabe 2022 – September, Coverfoto: Attila Budai – Lhasa, Tibet

Foto: Andraz Lazic – Unsplash