Der Verlauf unseres Lebens aus spiritueller Sicht
Wir leben in einer Kultur, in welcher das Altern immer mehr an Attraktivität zu verlieren scheint. Jeder möchte gerne jünger aussehen als er ist und dank unseres modernen Lebensstandards gelingt uns das auch oft. Immer häufiger sehen wir junge Menschen in führenden Positionen in der Politik, in der Wirtschaft und in den Medien. Auch das Durchschnittsalter der Protagonisten in unseren Büchern und Kinofilmen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gesenkt.
Fern und archaisch scheinen die Zeiten, als das Alter erst die Eintrittskarte für gewisse Rechte und Pflichten in der Gesellschaft war. Als die Alten sich noch am Feuer zusammensetzten und die Belange der Gemeinschaft besprachen, als man sie noch um Rat fragte, wenn man nicht weiter wusste im Leben.
Gleichzeitig leben wir auch in einer Zeit, in welcher unsere Lebensabschnitte sich immer weiter ins Alter ausweiten. Noch vor ein paar Generationen heiratete man bald nach dem Eintritt in die Volljährigkeit und begann kurz darauf auch schon Kinder zu bekommen. Heute gibt es immer weniger Frauen, die vor ihren Dreißigern zu Müttern werden. Unsere Ausbildungszeiten werden immer länger – man lernt heute im wahrsten Sinne des Wortes ein Leben lang -, nicht selten möchten wir noch “Karriere machen”, bevor wir uns binden. In unseren Vierzigern und Fünfzigern möchten wir gerne moderne Eltern sein, die eine gute Work-Life-Balance haben, viel beruflich leisten können und körperlich fit sind. Auch das Rentenalter soll immer weiter angehoben werden.
Sind unser moderner Lebensstil und unsere Flucht vor dem Altern ein Fluch oder ein Segen?
Wir möchten hier kein Urteil fällen, sehen wir es einfach als ein typisches Merkmal unserer Zeit an. Die spirituellen Traditionen von Ost und West können jedoch sehr hilfreich sein, wenn wir den Prozess des Alterns verstehen und uns auf die einzelnen Phasen unseres Lebens entsprechend vorbereiten möchten.

Foto: Vitolda Klein – Unsplash
Wiedergeburt und Leben
Aus der Perspektive der Spiritualität sind wir nicht einfach Menschen mit gelegentlichen spirituellen Erfahrungen, sondern spirituelle Wesen, die erleben können, einen Abschnitt ihrer Existenz auf diesem Planeten zu verbringen. So vergessen wir oft, dass unser Leben etwas von einem “langen Traum” hat, welcher sich jeden Morgen nach dem Aufwachen fortsetzt. Doch etwas können wir mit Sicherheit feststellen: Ich bin in jedem Augenblick meines Lebens anwesend und bin mir meiner Selbst bewusst. Ich mag vielleicht nicht ständig darüber nachdenken, dass ich in jedem Augenblick gegenwärtig bin, doch das Leben kann ich nur erleben, weil jedes meiner Erlebnisse auf der Erkenntnis „Ich bin“ basiert. So stehen all meine Erfahrungen, meine Gedanken, meine Gefühle in Beziehung zu meiner Person. Ich bin im wahrsten Sinne der Mittelpunkt von allem Leben, das sich um mich herum ereignet.
Wir leben immer in der Gegenwart, es gibt keine andere Zeit, in welcher wir leben.
Wir alle haben eine Vergangenheit und eine Zukunft, doch diese können wir nur von unserer Position im Hier und Jetzt sehen. In dieser ewigen Gegenwart ist unser Gefühl “Ich bin” immer gegenwärtig, deshalb fühlt sich die Gegenwart in diesem Sinne auch immer gleich an, und deshalb ist unser Grundempfinden mit Zwanzig, Vierzig oder Sechzig immer gleich. Das Altern nehmen wir nicht wahr, wir sehen es nur an den Merkmalen an unserem Körper und den Veränderungen in unserem Leben. Unsere Seele hat kein Alter, auch wenn wir uns manchmal gerne als “alte Seele” sehen.
Der “große Traum” namens Leben ist eine Station unserer Seele auf ihrer unendlichen Reise durch die Schöpfung. Wenn dieser “Traum” endet, wird ein neuer beginnen. Das nennen wir Reinkarnation.
Zwischen den Leben treffen wir auf unsere Seelenführer, die uns dabei beraten, wie wir unsere nächste Geburt wählen sollen.
Am Anfang und gegen Ende unseres Lebens haben unser Charakter, unser Geschlecht und unsere Berufung nur wenig Bedeutung für unser Leben. Wir durchwandern einen Bogen im Laufe unseres Lebens und sind im Allgemeinen in der Mitte seelisch am meisten gefordert. Dies wird nicht selten von einer Midlife-Crisis begleitet, in welcher wir uns typischerweise auch sehr oft nach dem Sinn unseres Lebens fragen. Zahl und Intensität unserer Träume sind im Kindesalter noch sehr hoch und nehmen im Laufe unseres Lebens langsam ab. Träume sind ganz ähnlich wie unsere Gedanken am Tag, ein seelischer Verarbeitungsprozess. So verarbeiten wir im Laufe unseres Lebens immer mehr seelische Themen – bewusst und unbewusst. Im Laufe der Jahre tendieren wir physiologisch immer stärker zu Weitsichtigkeit – ein Phänomen, welches die Grundhaltung unserer Seele ausdrückt: Die Details des Lebens zählen immer weniger, wir blicken mit unserer Seele in die Ferne.
Samye Ling, Tibet, Foto: Attila Budai

In unserer Seele zeigen sich mannigfaltige Eindrücke: Sinneseindrücke, Gedanken und Gefühle. Diese nehmen wir in einem Umfeld wahr, welches wir Zeit und Raum nennen. Diese Wahrnehmung ist das Wirken unseres Geistes. Die Welt und meine Person sind nie zwei getrennte Einheiten, sondern können immer nur zusammen verstanden werden. Ganzheitliche Heilung setzt genau hier an, indem die Ereignisse meines Lebens, meine Eindrücke und Gefühle nie voneinander getrennt erscheinen und deshalb auch gemeinsam geheilt werden wollen.
Innerhalb dieses meines “Seins”, welches sich durch meine Lebensgeschichte ausdrückt, erscheinen Lebensthemen, welche in Harmonie gebracht werden möchten. Spirituelle Heilungswege bieten eine Vielzahl an Herangehensweisen, um diese Lebensthemen aufzudecken und in Harmonie zu bringen. So kann schließlich die Interaktion zwischen mir und der Welt ungehindert und friedvoll im Fluss sein.
Die Chakren im Lauf unseres Lebens
Viele Kulturen, die heute noch traditionell leben, pflegen viele Riten des Übergangs, mit welchen man den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt feierlich begeht. Der Sinn dieser Rituale lag seit jeher darin, sich bewusst zu werden, mit welchen Möglichkeiten, aber auch Verbindlichkeiten eine bestimmte Lebensphase verknüpft ist.
So lehrt uns das uralte Wissen über die Chakren auch einiges über die Abschnitte unseres Lebens. Nach alter indischer Vorstellung sind die sieben Chakren nicht nur Energiepunkte in unserem Körper, sondern auch Sinnbilder für die verschiedenen seelischen Bereiche unseres Lebens. So steht das Wurzelchakra für alle unsere materiellen Bedürfnisse und Belange. Das Sakralchakra für die Qualität unserer sozialen Beziehungen und für unsere Kreativität. Das Nabelchakra steht dafür, wie wir in der Welt wirken und arbeiten. Das Thema des Herzchakras ist unsere Selbstakzeptanz – können wir uns und unser Schicksal mit Freude ganz annehmen? Das Halschakra steht für das Thema Integrität – leben wir das, wovon wir sprechen? In dem Stirnchakra ist die Vision von unserem eigenen Leben zu Hause und das Kronenchakra steht schließlich für das Glück, welches wir empfinden, wenn die ersten sechs Chakren in Harmonie sind.

Unsere Chakren sind mit allen unseren Lebensbereichen verbunden, Foto: Darius Bashar, Austin Schmid – Unsplash
Nach indischer Vorstellung sind unsere Lebensjahre immer von den Themen bestimmter Chakren geprägt.
Unsere ersten sieben Lebensjahre stehen im Zusammenhang mit dem Wurzelchakra. In dieser Zeit geht es darum, dem Leben zu begegnen. Wir erleben das erste Mal, wie es ist, einen Körper zu haben. Wir lernen sitzen, gehen und schließlich sprechen. In unserem achten Lebensjahr beginnt die nächste Phase, die des Sakralchakras. Neben unseren Eltern werden nun auch unsere Freundschaften und andere soziale Beziehungen wichtig. Unser Geschlecht beginnt immer mehr eine Rolle zu spielen. Von den Märchen und Mythen wenden wir uns immer mehr den realen Themen zu. Ab unserem fünfzehnten Lebensjahr wird uns die Frage wichtig: “Wie kann ich mich in der Welt behaupten?” Mutproben und ein gutes Image vor den Freunden sind die Themen, die Jugendliche oft beschäftigen. Auch die Berufswahl beginnt sich in dieser Phase allmählich herauszukristallisieren. Genau in der Mitte dieser Phase, mit 18 Jahren, werden wir nach dem Gesetz volljährig.
Mit 22 Jahren beginnt die Lebensphase des Herzchakras. Das ist die Zeit, in der wir immer mehr auf unseren eigenen Beinen stehen müssen, das Leben prüft uns in dieser Zeit immer öfter, ob wir auch “mit Herz” bei der Sache sind. Wir haben meist unser eigenes Zuhause, gründen vielleicht eine Familie und unser Partner ist nicht mehr “nur eine Liebe“, sondern jemand, mit dem wir das Auf und Ab des Alltags gemeinsam meistern müssen. Haben wir Schwierigkeiten, uns und unseren Lebensweg ganz zu akzeptieren, kann dies gegen Ende dieser Lebensphase mitunter fatale Folgen haben. Viele namhafte Künstler starben oder haben sich im Alter von 27 Jahren das Leben genommen. Von Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison und Kurt Cobain bis zu Amy Winehouse.
Mit 29 kommen wir zu dem Halschakra und damit auch zu den sogenannten höheren Chakren. Das Thema ist hier Integrität.
Immer öfter fragen wir uns: Passt das, was ich tue und wie ich lebe wirklich zu mir?
Nicht selten ist dies auch die Zeit, in der wir beginnen, unsere Berufung voll zu erkennen. So kommt es in diesem Lebensabschnitt oft zu einem Berufswechsel oder zu einer Spezialisierung. Mit 36 Jahren beginnt sich die Kraft unseres Stirnchakras in unserem Leben zu manifestieren. Wir finden immer stärker zu uns selbst, zu der Person, die wir im Kern wirklich sind. In diesem Alter soll der Buddha Erleuchtung gefunden haben. So können Themen wie Spiritualität und Philosophie auch in unserem Leben mehr Bedeutung erlangen. Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens wird nunmehr unausweichlich. Wir sehnen uns danach diese Frage in unserer Seele beantworten zu können. Dass wir immer stärker zu uns selbst finden, stellt auch manchmal unser Leben auf den Kopf. Nicht selten ist dies die Lebensphase von schmerzhaften Entscheidungen und Trennungen in Bezug auf Familie, Beruf und Freunde. Doch am Ende kristallisiert sich sehr klar heraus, wer wir sind und was uns und unserer Seele wirklich guttut.
Mit 43 Jahren beginnt der letzte Abschnitt: die Zeit des Kronenchakras. Können wir uns nun das Glück erlauben, einfach nur zu sein? Wenn das der Fall ist, können wir in dieses Glück eintauchen und es jeden Tag aufs Neue erleben. Wir können die Früchte dessen genießen, was wir in diesem ersten Durchlauf in unserem Leben klären konnten. Was noch ungeklärt blieb, dafür haben wir ab unserem fünfzigsten Lebensjahr erneut eine Möglichkeit, denn hier beginnt der Zyklus aufs Neue. Doch diesmal kennen wir die Stationen schon und können nun zielgerichtet die noch offenen Themen in uns auflösen. Während der erste Durchlauf die “Pflicht” darstellt, folgt nun die “Kür” und wir können als wahre Künstler unseres Lebens alle Bereiche ergänzen, vervollständigen und genießen.
Illustration: Dóra Tölgyesi

Lebensabschnitte und Zahlen
Auch die Numerologie, die alte Wissenschaft von den Zahlenqualitäten, kann uns Aufschlüsse über die wichtigsten Ereignisse unseres Lebens geben. Auch hier durchwandern wir verschiedene Phasen entsprechend unserer Geburtszahlen. Jedes unserer Lebensjahre hat eine besondere Prägung und weist uns damit auf bestimmte Themen unserer Seele hin.
Wenn wir lernen mit den feinen Instrumenten der Spiritualität unser Leben zu lesen, so gewinnen wir ein tieferes Verständnis von uns selbst und dem Zweck unseres Daseins.
Erschienen im Magazin Naturheilkunde, Ausgabe 2021 – Frühjahr, Coverfoto: Danie Franco – Unsplash