Die Kunst der Hingabe

Immerfort lernen, glücklich zu bleiben

Einer alten Legende zufolge kam der Urgeist Prajapati in diese Welt um sich eine Wohnstatt zu suchen. So besuchte er zuerst die hohen Götter, auch Devas genannt. Er sah, dass ihre Ellenbogen steif waren und sie so nicht ihre Arme beugen konnten. Deshalb konnten sie sich auch nicht eigenständig ernähren und reichten sich deshalb gegenseitig die wertvolle Nahrung zur Speise. Anschließend besuchte er die niederen Götter, auch Dämonen oder Asuras genannt. Diese hatten keine Schwierigkeit ihre Arme zu beugen und stopften sich in ihrer Gier so viel Nahrung in ihren Leib, wie sie nur konnten. Wo man achtsam miteinander umgeht, dort ist man immer geborgen, dachte er und kehrte daraufhin zu den Devas zurück und nahm sich dort seine Wohnstatt.

Bei den Devas war es scheinbar ein Makel, der sie zur Hingabe geleitet hat, doch was uns diese Geschichte eigentlich lehrt ist, dass wir auf lange Sicht immer gewinnen, wenn wir uns den Situationen hingeben, in welchen uns das Leben fordert und wir manches aufgeben müssen. Doch warum fällt uns das manchmal so schwer?

Foto: Mario La Pergola

Oft sind wir so sehr damit beschäftigt, das Beste aus jeder Situation für uns selbst herauszuholen, dass wir dabei im sprichwörtlichen Sinne manchmal vergessen zu leben. Genauer gesagt: Das Leben um uns herum wahrzunehmen und mit diesem verbunden zu sein. Wer schon einmal Reisen in ärmere Länder gemacht hat, hat sich vielleicht gewundert, wie vielen glücklichen Menschen er auf seinem Weg begegnete. Manche Menschen besitzen kaum mehr als das Nötigste, und finden trotzdem tiefe Zufriedenheit – eine Zufriedenheit, die wir bewundern. Warum? Weil sie flexibel auf das im Leben reagieren, was ist und nicht ständig auf das schielen, was ihnen fehlt.

Das Leben ist ein Geschenk und es sollte gefeiert werden.

Doch wir müssen auch lernen damit umzugehen, dass eines Tages alles vorüber sein wird. In unserer Kultur lernen wir früh, Besitz und Erfolg als Synonyme für Glück zu betrachten. Oft flüchten wir uns in den Genuss, um nicht an die Flüchtigkeit des Lebens zu denken, allem voran auch daran, dass unser Leben vielleicht schon morgen enden könnte. Es gibt nichts Falsches an dem Versuch, Erfolge zu erlangen oder sich etwas zu gönnen – aber es ist eigentlich nicht unbedingt der Erfolg selbst, der uns glücklich macht, sondern die Hingabe an unser Ziel.

Um hingebungsvoll leben zu können, müssen wir zuerst lernen glücklich zu bleiben, auch wenn wir verlieren, auch wenn wir gerade den Kürzeren in einer Situation ziehen. Dies ist die Kunst des Loslassens. Wenn wir einen Ballsport spielen, so ist es wichtig, am Ball zu bleiben, aber diesen eben auch loszulassen, wenn wir ihn auf das Tor schießen. Wir wissen jedoch in diesem Augenblick noch nicht: Werden wir einen Treffer erzielen oder nicht? Genau in diesem Augenblick ist es wichtig loszulassen. Das gilt nicht nur für den Ball, sondern für jede Erwartungshaltung im Bezug auf das Ergebnis. Wenn wir dies können, sind wir auf jeden Fall die glücklicheren Menschen. Denn unser Glück hängt nicht davon ab, ob wir einen Treffer erzielen konnten oder nicht. Wir sollten glücklich sein in dem Bewusstsein, alles für unseren Erfolg getan zu haben, aber auch die Größe haben, jedes Ergebnis zu akzeptieren, welches uns das Universum beschert. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der nicht wenigstens einmal schon einen Verlust erlebt hat. Es sind unsere Narben, die uns für die tiefere Erkenntnis des Lebens aufnahmefähig machen.

Foto: Tibetische Pilgerinnen,
Tashilhunpo Kloster, Shigatse, Tibet
– Attila Budai

Unser Wort Aufgeben hat in unserer Kultur einen negativen Beigeschmack, dabei hat dieses Wort eine tief spirituelle Bedeutung: Auf-geben heißt, ich alleine kann nichts mehr tun, also bitte ich die Kräfte des Himmels und gebe meine Sehnsucht zu ihnen hin-auf. Auf diesem Wege verbinde ich mich erneut mit dem Universum und ich vertraue darauf, dass richtig ist, was es für mich bereithält. Jeder Schmerz wurzelt in gewissem Sinne in unserer Ungeduld und darin, dass wir nicht auf die Kräfte des Universums vertrauen.

Glückliche Menschen leben in Freundschaft mit dem Gedanken, nicht zu wissen was kommt und wann alles zu Ende sein könnte.

Sie genießen die Annehmlichkeiten des Lebens, einschließlich ihrer Erfolge und können Niederlagen und Verluste annehmen – egal was passiert. Wir sollten lernen, mit allem, was in uns vorgeht, Freundschaft zu schließen. Diese Herausforderung besteht darin, uns auch jenen inneren Vorgängen hinzugeben, die wir ablehnen oder missbilligen. Wenn wir lernen, alles zu akzeptieren verändert sich unsere Einstellung. Wenn wir den Erfolg anstreben, tun wir es aus Freude und es ist nicht mehr die Furcht vor dem Verlieren, die uns leitet. Um in den Reichtum unserer Seele einzutauchen, müssen wir die Kunst des Verlierens erlernen.

Wenn wir alles loslassen, was wir loslassen können, so bleibt in unserer Seele nur mehr das übrig, wonach wir uns in der Tiefe wirklich sehnen.

Das ist der Schlüssel zur Hingabe. Und erst, wenn wir in tiefer Hingabe leben, kann uns die Gnade des Seins ereilen und unser Leben wird magisch.

Foto: Jakob Owens – Unsplash

Übung:

Wenn wir tagein tagaus damit beschäftigt sind, die Dinge in unserem Leben zu steuern, fällt es uns manchmal schwer den Pinsel abzugeben, mit welchem wir unser Leben gestalten. Doch eigentlich sind wir nicht nur Maler, sondern auch eine leere Leinwand. Fühlen wir uns in dieses Bild hinein: Wir sind eine leere Leinwand und die vielen emsigen Hände des Lebens malen alles Mögliche auf unsere leere Leinwand. Manches gefällt uns, manches weniger, manches empfinden wir als Kritzelei und eine Verschwendung des wundervollen Raumes auf der Leinwand. Anderes empfinden wir als schön und würden uns freuen, wenn es mehr Platz auf unserer Leinwand einnehmen würde und doch wird es nicht mehr. Können wir mit Geduld die Veränderungen auf der Leinwand unseres Lebens empfangen? Tauchen wir in dieses Bild ein und beobachten wir, wie sich langsam der Widerstand in uns auflöst.

Erschienen im Magazin Pulsar, Ausgabe 2023 – Mai, Coverfoto: William Farlow – Unsplash